Herr Dr. Seidler, Sie sind selbst CI-Träger und nach meinen Recherchen seit etwa 30 Jahren im Dt. Schwerhörigen Bund aktiv. 1996 wurden sie zu deren Präsident gewählt. In anderen Gremien arbeiten Sie zudem rege für die Interessen von Schwerhörigen. Was ist Ihre Geschichte? Warum und seit wann tragen Sie ihr Cochlea Implantat?
Als Säugling hatte ich eine Hirnhautentzündung und brauchte starke Medikamente. Meine Hörschädigung wurde mit etwa 3,5 Jahren festgestellt. Das war für die damaligen Verhältnisse sehr, sehr früh. Damals gab es ja noch keine Früherkennung. Die ersten Hörgeräte bekam ich etwa 1961/62. Dadurch konnte ich die Regelschule besuchen und ein Studium und den Facharzt in Hamburg machen. Danach habe ich zunächst als niedergelassener Arzt gearbeitet und bin nun seit fast 15 Jahren in St. Wendel. Als ich hier anfing trug ich noch Hörgeräte, hatte damals aber schon eine Grenzindikation. Das heißt, ich brauchte schon Mikrofone und Kommunikationsanlagen. Dann habe ich vor 13 Jahren die Entscheidung für das CI auf der linken Seite getroffen. Seit dem genieße ich auch die Vorteile durch das CI, vor allem nämlich, dass die Höranstrengung über den Tag deutlich zurück ging. Allein mit zwei Hörgeräten würde ich heute, vor allem im Klinikalltag, nicht mehr zurecht kommen.
Sie spielen auch Klavier, habe ich erfahren.
Ja, schon seit dem neunten Lebensjahr. Das Klavierspielen war mein Hörtraining. Damals gab es nicht viel Reha oder Hörtraining, die Hörgeräte waren noch nicht sehr weit enwickelt. Dann habe ich irgendwann mit dem Klavierspielen begonnen. Meine Eltern haben mich dabei ganz stark unterstützt und das war das Beste was sie machen konnten. Durch dieses Hörtraining hat sich mein Hören sehr gut entwickelt, so dass ich heute die Aufgaben in meiner Position erfüllen kann. Als ich am Bosenberg angefangen habe, hatte ich ja noch zwei Hörgeräte. Das war eine große Herausforderung, die ich nur meistern konnte, weil ich dieses Hörtraining hatte. Heute – mit CI – kann ich sagen, wenn ich Beethoven spiele, dann höre ich auch Beethoven. Ich kann also jedem nur Mut machen, Musik zu machen. Wir haben immer wieder Patienten, die nach der Implantation anfangen, ein Musikinstrument zu lernen. Im letzten Jahr hatten wir auf dem CI-Symposium sogar einige Patienten, die etwas vorgespielt haben.
Das ist für mich auf jeden Fall ein spannendes Feld.
Es gibt es viele Menschen die sich akut mit dem Thema CI befassen und eine Implantation für sich in Erwägung ziehen. Gerade vor einer so weitreichenden Entscheidung sind oft viele Fragen offen. Wo können sich diese Menschen eingehend informieren?
Vor allem über die Internetseiten der entsprechenden Verbände, beispielsweise die der DCIG (Deutsche Cochlea Implant Gesellschaft e.V. – www.dcig.de). Dieser Verein hat eine sehr umfangreiche und ausführliche Seite, wo man sich gezielt informieren kann. Auch beim DSB (Deutscher Schwerhörigen Bund – www.schwerhoerigen-netz.de) bieten wir sehr viele Informationen an. Außerdem gibt es seit rund eineinhalb Jahren die „Ergänzende unabhängige Teilhabe Beratung“ (www.eutb.de). Hier können sich Behinderte und Angehörige im gesamten Bundesgebiet an die verschiedenen Beratungsstellen wenden. Wir haben bundesweit mittlerweile 14 Beratungsstellen aufgebaut. Sehr viele in NRW aber auch in anderen Bundesländern. Das kann man auch im Internet recherchieren.
Es wird sogar eine individuelle Onlineberatung angeboten. Diese Beratungsstelle erreicht man wiederum über den DSB unter www.schwerhoerigen-netz.de/online-beratung oder direkt per eMail über die Adresse eutb-onlineberatung@schwerhoerigen-netz.de.
Diese Informationen und Beratungsstellen richten sich ganz bewusst an alle Betroffenen, sowohl vor als auch nach der Implantation.
Was ist in der Fülle der Informationen aus medizinischer Sicht besonders wichtig und zu beachten?
Die CI-Operation ist inzwischen eine Routineoperation geworden. Wir haben in Deutschland mittlerweile etwa 50.000 CI-Träger – das sind Zahlen, die wir von der Industrie bekommen – und es gibt über 100 Implantationskliniken. Die Anzahl der Kliniken ist für mich nicht unbedingt eine erfreuliche Information, denn nicht jede der Kliniken operiert in der erforderlichen Häufigkeit und dadurch nicht in der entsprechenden Qualität. Das ist der Punkt, an dem wir ansetzen wollen. Wir erstellen gerade eine neue CI-Leitlinie, in der wir die Anforderungen an die Kliniken, die Implantationen durchführen wollen, sehr hoch ansetzen. Sie haben das ja selbst erlebt, wie hoch der Aufwand ist, den wir in St. Wendel betreiben. Es hat keinen Sinn zu operieren, dann kommt zweimal der Logopäde und zweimal der Einsteller dran und das war es. Nein, man braucht ein ganzes Rehateam und genau das haben eben nicht alle Kliniken in Deutschland. Unsere Leitlinie ist in diesem Punkt sehr ausführlich geworden und wir rechnen damit, dass wir sie bis Ende 2019 veröffentlichen werden. Ein ähnliches Ziel verfolgt auch die Qualitätsinitiative Cochlea-Implantation, kurz; QuIN-CI. Diese Initiative wurde von der Techniker Krankenkasse angestoßen und inzwischen über die wissenschaftlichen Fachverbände vertieft.
2005 wurden sie leitender Chefarzt der Bosenberg Klinik. Seit 2007 bietet die fachübergreifende Rehaklinik in St. Wendel neben neurologischer Rehabilitation, fachgerechte Behandlung bei Multipler Sklerose und bei Tinnitus auch Rehabilitationen für CI-Träger an. Ist das Behandlungskonzept Teil Ihrer eigenen CI-Erfahrung? Welche Schwerpunkte gab es am Anfang?
Ja, das Behandlungskonzept ist einzigartig und wir haben uns sehr viele Gedanken gemacht. Vor 15 Jahren wurde mir die Klinikleitung angeboten und ich habe dann die Möglichkeit bekommen, das Konzept auch aus der Sicht des Betroffenen aufzubauen und eben nicht nur als HNO-Arzt. Dazu gehört die Barrierefreiheit der Räumlichkeiten mit Lichtsignal- und Kommunikationsanlagen. Außerdem ein Team, das ebenfalls aus eigener Erfahrung schöpfen kann. So trägt unsere Chefpsychologin zwei CIs, wir haben eine Physiotherapeutin mit Cis, was natürlich hilfreich dabei ist, die Brücke zu den Patient*innen zu schlagen.
Von Anfang an haben wir mit einem großen Personaleinsatz geplant. Beispielsweise beschäftigen wir vier CI-Ingenieure in Vollzeit, wir haben Psychologen, Logopäden, Audiotherapeuten. Das geht natürlich nur dann, wenn man einen großen Durchsatz an Patienten hat.
Die Entwicklung eines Behandlungskonzepts ist vermutlich niemals abgeschlossen, wo soll die Reise hingehen?
Ja, wir haben sozusagen eine ständige Baustelle. Es ist auch ganz bewusst so, dass wir die Mitarbeiter dazu ermuntern, Verbesserungen und Ergänzungen vorzuschlagen.
Beispielsweise rehabilitieren wir seit drei Jahren auch CI-Kinder, also Neugeborene oder Frühversorgte, und das bedeutet, dass wir die Eltern und Geschwister dazu holen. Die sind mindestens ebenso betroffen und müssen wissen, wie sie damit umgehen können, z.B. wie die Entwicklung der Lautsprache bei einem taub geborenen Kind funktioniert. Das ist eine spannende Geschichte.
Als einzige Klinik in Deutschland bieten wir eine medizinisch-berufliche Rehabilitation an. Bei Problemen am Arbeitsplatz, wenn die berufliche Leistungsfähigkeit gefährdet ist, wenn die Patient*innen langzeitkrank sind und ihren Beruf nicht mehr ausüben können, dann können wir berufsspezifisch rehabiliteren. Zum Beispiel, wenn sie telefonieren müssen oder andere Anforderungen am Arbeitsplatz erfüllen müssen. Dann können wir in der Reha austesten, ob das möglich ist und entsprechend trainieren und Hilfestellung geben. In diesen Fällen dann nicht nur allgemein, sondern eben berufsspezifisch, also arbeitsplatzbezogen. Wir beraten auch im Hinblick auf Hilfsmittel und wir haben den Klangraum, in dem man berufsypische Geräuschkulissen simulieren kann. Hier können die Patient*innen selber testen, ob und wie sie an ihrem bisherigen Arbeitsplatz am besten zurecht kommen können.
Ich habe mich vor meiner OP ebenfalls intensiv mit dem Thema beschäftigt und gelesen, dass der Zeitraum zwischen Erstanpassung und Rehaantritt möglichst kurz sein soll, weil dies den Erfolg in der Reha bedeutend erhöht. Sehen Sie das ebenso? Ist ein solcher Trend bei Ihnen in der Klinik bereits feststellbar?
Ja, wir sind die einzige Klinik in Deutschland, die die sogenannte stationäre Erstanpassung anbietet. Das heißt, wir haben mit einigen Kliniken vertragliche Vereinbarungen, dass in der Klinik operiert wird und bereits die erste Anpassung bei uns erfolgt. Der Ablauf ist dann so, dass sie sonntags in St. Wendel ankommen, am Montag ist die erste Anpassung und am Samstagvormittag fahren sie wieder nach Hause. Das hat den großen Vorteil, dass wir sehr zeitnah arbeiten. Wir versuchen schon nach einer Woche, spätestens 10 Tage nach der Operation, zu beginnen. Andere Kliniken machen die Erstanpassung erst nach 4 Wochen, das ist viel zu lang. Außerdem ist das bei uns stationär, sie bekommen also jeden Tag eine Einstellung, so dass wir in dieser einen Woche bereits eine Menge an Grundhören und Hörverbesserung erreichen. Wir machen das mittlerweile mit einer ganzen Reihe von Kliniken. Mit Mannheim haben wir begonnen und inzwischen gehören zehn Kliniken dazu, u.a. Wiesbaden, Ludwigshafen, Frankfurt, München und Saabrücken. Das hat sich also ordentlich weiterentwickelt und die Kliniken merken, ihr Kerngeschäft ist die Operation. Die Reha ist planerisch und personell sehr aufwändig und da haben wir am Bosenberg ganz andere Möglichkeiten und Kompetenzen.
Etwas Besonderes gibt es bei uns ebenfalls in der Nachsorge, die sogenannte Blockwoche. Das findet nach der Reha statt, ist also kein Rehabestandteil, das ist ganz wichtig bei der Beantragung! Wir bieten die Möglichkeit zur Nachsorge in Form einer stationären Blockwoche. Nachsorge bedeutet nicht nur Filterwechsel oder Kabel zu überprüfen, sondern auch Updates, ggfs. die Anpassung eines neuen Sprachprozessors oder auch Hörtraining. Nach unserer Erfahrung braucht man auch nach Jahren immer wieder Hörtraining.
Hierfür kann man vom HNO-Arzt ein Rezept für 20 Nachsorgetage bekommen. Dieses reicht man bei der Krankenkasse ein und die genehmigt das dann. Anschließend kann man dann im ersten und zweiten Jahr nach der Implantation pro Halbjahr eine Blockwoche bei uns wahrnehmen. Inzwischen haben wir auch schon die ersten Erfahrungen für die Zeit danach sammeln können und bei einigen Patient*innen wurden nun auch für das dritte und vierte Jahr weitere 20 Tage Nachsorge genehmigt.
Diese Blockwochen müssen also bei der Krankenkasse beantragt und genehmigt werden. Gibt es Unterschiede im Genehmigungsverhalten der Kassen?
Nach unserer Erfahrung bewilligt es der Großteil der Krankenkassen. Momentan haben wir auch etwa zehn Blockwöchner bei uns. Es gibt aber kleinere Krankenkassen oder auch Sachbearbeiter, die sich damit nicht auskennen oder mit CI weniger zu tun haben. In diesem Fall besteht immer die Möglichkeit bei uns nachzufragen. Wir haben auch einen Begründungstext für die Antragstellung, warum die Nachsorge sinnvoll ist, den wir gerne zur Verfügung stellen.
Sollte dann trotzdem abgelehnt werden, raten wir dazu in den Widerspruch zu gehen, im Extremfall vor das Sozialgericht, um seinen Anspruch geltend zu machen. In der Regel wird die Nachsorge genehmigt und wenn nicht, sollte man nachhaken, dranbleiben und nicht aufgeben. In so einem Fall kann man uns gerne eine eMail schreiben und wir sind dann auch behilflich.
Bei Kindern werden Implantationen bereits seit Jahrzehnten durchgeführt, so dass die Erfahrung hier ungleich höher sein dürfte, als bei Erwachsenen. Was sind Ihre Beobachtungen gerade im Hinblick auf die Dauerhaftigkeit der Technik und eine mögliche Reimplantation im Erwachsenenalter?
Grundsätzlich sagt man heute, dass ein Implantat im Durchschnitt 25 Jahre hält. Das bedeutet, dass bei einem Menschen, bezogen auf die Lebenserwartung, bis zu drei Implantationen notwendig sein können. Die Implantate sind meist sehr dauerhaft und halten oft länger als die besagten 25 Jahre. Es kann natürlich auch mal sein, dass ein Gerät vorher kaputt geht. Die Sprachprozessoren kann man natürlich jederzeit austauschen. Normalerweise kann man sehr gut reimplantieren. Das ist vom Umfang her auch nicht vergleichbar mit der Erstimplantation, weil hier die Strukturen ja schon vorhanden sind. Das heißt, die Operation ist weniger belastend. Dennoch muss das neue CI dann auch wieder neu programmiert werden, da die neuen Elektroden ja meist etwas anders liegen und anders beschaffen sind. Dank der Hörerfahrung mit dem CI geht das meist aber etwas schneller.
Wie sind die Aussichten im speziellen Fall einer Meningitis (Hirnhautentzündung)?
In diesem Fall muss die Erstimplantation sehr zeitnah erfolgen, weil die Hörschnecke bei bestimmten Formen der Meningitis verknöchert. Eine Reimplantation ist jedoch ohne weiteres möglich, da dann der bereits vorhandene Kanal wieder genutzt werden kann.
Die Kosten einer Implantation liegen in Summa bei etwa 40.000 € pro Ohr?
Ja, in dem Rahmen bewegt es sich. Die Festpauschale ist derzeit etwas reduziert worden. Zum Teil, weil die Preise der Hardware, also für Implantat und Sprachprozessor, auf Grund der wachsenden Stückzahlen gesunken sind. Dieser Betrag umfasst Vordiagnostik, Operation, Hardware, Erstanpassung und – wenn man dann noch die Rehabilitation dazu rechnet – kommt man auf diese Summe.
Für die Patient*innen ist das CI nicht mit Kosten verbunden. Bei Hörgeräten ist das ja anders, da gibt es die Festbeträge und dann muss man evtl. etwas dazu bezahlen und die Batterien auch. Beim CI ist das nicht so. Da gibt es inzwischen auch Akkus und die werden auch übernommen.
Das spült eine Menge Geld in die Kassen der Implantationskliniken. Springen nicht auch viele Kliniken aufgrund wirtschaftlicher Interessen auf diesen fahrenden Zug?
Ja, leider. Wir haben in Deutschland sehr viele Kliniken, die Implantationen durchführen. Die Festpauschale ist natürlich auf den ersten Blick ein hoher Betrag. Aber das setzt natürlich auch voraus, dass man sowohl die personellen und fachlichen als auch zeitlichen Möglichkeiten hat, um die gesamte Nachsorge zu stemmen. Das ist leider in den meisten Fällen nicht gegeben. Es gibt nur ganz wenige Kliniken, die das ganz große Programm anbieten. Das sehen wir ja auch hier bei uns bei den Patient*innen, die über viele Umwege dann zu uns kommen und ihre Odyssee, ihren Leidensweg, beschreiben und davon erzählen, was da teils über Jahre schief gelaufen ist. Da kommt dann auch wieder unsere Leitlinie ins Spiel. Eine Leitlinie ist zwar noch kein Gesetz aber die Kliniken gehen trotzdem ein größeres Risiko ein, wenn sie die Anforderungen nicht erfüllen, da man dann dagegen klagen kann.
Aber viel wichtiger ist es, Informationen breit zu streuen, so wie Sie es mit Ihrem Blog machen.
In Gesprächen werde ich, gerade von älteren Menschen, immer wieder gefragt, ob sich die Implantation denn überhaupt noch lohnt. Kann man eine einfache Rechnung aufmachen, die das Versorgungsalter ins Verhältnis zum zu erwartenden Behandlungserfolg setzt?
Ob es sich mit über 80 noch lohnt, sollte man nicht fragen. Es geht dabei ja weniger ums Lebensalter als um das Höralter. Man muss beispielsweise dann betrachten, wie lange die Ertaubung schon besteht. Und es ist wichtig, die geistige Leistungsfähigkeit zu überprüfen. Es geht ja auch z.B. um die Bedienung der Geräte und evtl. einer Fernbedienung. Die Technik, die Programme, das muss man dann ggf. auch schon mal etwas eingehender erklären. Wir haben 80jährige, die das hervorragend umsetzen. Aber das kann man nicht generalisieren.
Ein wichtiger Aspekt für eine Entscheidung ist auch der Zusammenhang zwischen einem Hörverlust und einer Demenzerkrankung. Soll nun ein Mensch als Ertaubter herumlaufen, weil die Hörgeräte nicht mehr ausreichen? Er wird sich in der Folge immer weiter zurückziehen und mit zunehmender Wahrscheinlichkeit dement werden. Oder aktivieren wir das Gehör wieder und ermöglichen damit eine Teilnahme an der Gesellschaft, an der Familie usw.? Das ist doch eine viel positivere Aussicht.
Auch die Hörgeräteindustrie bewirbt und akquiriert – nicht ganz selbstlos – in immer stärkerem Maße Implantationspatienten. Im positiven Fall lassen sich durch größere Stückzahlen kürzere Innovationszyklen finanzieren.
Wo sehen Sie noch dringenden Handlungsbedarf?
Wir brauchen Fortbildung. Die Kliniken unterschätzen oft den Fortbildungsbedarf und es gibt auch von Seiten der BIHA (Bundesinnung der Hörgeräeakustik KdöR) immer wieder die Frage, „sollen Hörakustiker die Nachsorge machen?“ Ich bin der Ansicht, wenn es um die rein technische Betreung geht, d.h. um Filterwechsel, Ersatzteile und Gerätekontrolle, dann natürlich. Aber wenn es um die „Innereien“ geht, also die Einstellung, dann sollte man sehr vorsichtig sein. Mit einer fehlerhaften CI-Einstellung kann Tinnitus verstärkt und Schwindel oder Kopfschmerzen ausgelöst werden. Das fällt ja dann auch auf den Einsteller zurück. In der Zukunft werden die Hörakustiker immer stärker in die Nachsorge miteinbezogen, jedoch immer in enger Zusammenarbeit mit den Kliniken. Zum einen, damit man dort an Fortbildungen teilnehmen kann, zum anderen aber auch, wenn beispielsweise Grenzen der Einstellung erreicht sind, Patient*innen in der Klinik weiter betreut werden können. Das CI ist einfach kein Experimentierfeld und die Verantwortung ist größer, als bei der Einstellung von Hörgeräten.
Die Schulungen der Hersteller, um die Zertifizierung zur Einstellung von CIs zu erhalten, sind sehr aufwändig und anspruchsvoll. Wenn man als Hörakustiker Einstellungen vornehmen will, muss man bei allen vier Herstellern mehrtägige Qualifizierungslehrgänge absolvieren.
Ja, das ist richtig. Die Hersteller sähen das natürlich gerne, wenn die Betreuung breiter aufgestellt würde. Aber diese Fortbildungen summieren sich für die Akustikbetriebe natürlich auch.
Die Entwicklung wird in dieser Richtung fortschreiten. Wir am Bosenberg können auch nicht ganz Deutschland versorgen, das ist klar. Wichtig bei dieser Entwicklung ist, dass man die Steigerung der Versorgungsqualität als Ziel definiert.
Vermutlich wird der hohe Qualifizierungsbedarf viele Hörakustiker abschrecken, sich in die CI-Sparte zu begeben, weil die Verdienstmöglichkeiten angesichts des zu betreibenden Aufwandes eher gering sind.
Ja, ganz genau. Wir müssen uns Gedanken machen, und da sehe ich die Hörakustiker in einer ganz wichtigen Stellung, wenn es um die Beratung geht. Wenn die Frage ist, soll man noch ein Power-Hörgerät anpassen oder soll man zum CI raten? Da sind Sie als Akustiker fast noch wichtiger als der HNO-Arzt, weil Sie deutlicher verfolgen können, wann es grenzwertig wird. Bisher ist es so, dass eine Empfehlung zum CI gleichzeitig den Verlust eines Kunden bedeutet. Nach meiner Auffassung muss man da einen Ausgleich schaffen, damit eine CI-Empfehlung frühzeitig erfolgen kann und der Kunde nicht aus wirtschaftlichen Gründen immer weiter mit untauglichen Hörgeräten versorgt wird. Dafür muss eine Lösung gefunden werden.
Nochmal zurück zum Bosenberg. Wie viele CI-Patient*innen verbringen ihre Reha pro Jahr in St. Wendel?
Wir haben jährlich etwa 3800 Patient*innen, dazu gehören natürlich die CI-Patient*innen, Hörgeräteträger, die erschöpft sind und z.B. nicht mehr bei der Arbeit zurecht kommen, Tinnitus- und Schwindel-Patient*innen sowie die Onkologie, d.h. HNO-Tumore. Wir sind eine der größten HNO-Reha-Kliniken in Deutschland. Es gibt andere Tinnituskliniken, das sind aber keine HNO-Kliniken sondern die bewegen sich im Bereich der Psychosomatik. Wir haben in St. Wendel vier Psycholog*innen speziell für diese Patientengruppe. Mehr haben die anderen Kliniken auch nicht.
Derzeit haben wir 42 CI-Patient*innen, wir hatten im letzten November auch schon über 50 Patient*innen im Haus. Das hat den Vorteil, dass man viel in Gruppen arbeiten kann, dass man als Patient*in viel Austausch haben kann und vor allem, dass wir vier CI-Ingenieure beschäftigen können. Das funktioniert nur, wenn die alle ausgelastet sind. Wir können eine hohe Zahl von Therapeuten beschäftigen. Das macht so auch sehr viel Spaß.
Wie lang ist die durchschnittliche Verweildauer in der Reha?
Es gibt im CI-Bereich die Erstanpassung, die dauert eine Woche.
Die große Reha dauert etwa 28 Tage. Das ist individuell unterschiedlich und schwankt immer so um eine Woche mehr, eine Woche weniger.
Und die Nachsorge ist auf jeweils eine Woche begrenzt.
Einer meiner Mitrehabilitanten war 10 Wochen bei Ihnen. Ist das die Spitze des Eisberges?
Ja, in ganz besonderen Fällen kann die Rehadauer auch mal deutlich ausgeweitet werden. Wir hatten beispielsweise jemanden, der war vor der Implantation komplett gehörlos. Nach Ablauf der zehnwöchigen Reha konnte er schon einer einfachen Unterhaltung folgen. Das war auch für uns ein sensationelles Ergebnis.
Während meiner Reha wurde immer wieder deutlich, Sie arbeiten mit einer sehr hohen Auslastung. Gibt es Pläne, die Klinik am Standort weiter auszubauen?
Wir haben eine Auslastung von 98 bis 99%. Das ist in der Tat sehr viel. Wir aktualisieren derzeit das „Kurschlösschen“ im Hinblick auf Barrierefreiheit und Brandschutz und werden es im September/Oktober eröffnen. Dann können wir dort weitere zehn bis 15 Patienten unterbringen.
Im CI-Bereich sind Sie auf eine Vielzahl hochqualifizierter Fachleute angewiesen. Woher nehmen Sie den Nachwuchs? Bilden Sie in der Klinik selber aus, möglicherweise auch in der Form eines dualen Studiums oder etwas Ähnlichem?
Gute Frage! Wir haben seit vier Jahren eine Kooperation mit der HTW (Hochschule für Technik und Wirtschaft) in Saarbrücken. Dort gibt es den Studiengang „Biomedizinische Technik“. Nach dem Bachelor machen die Studierenden bei uns ihre Master-Ausbildung. Wir haben jedes Jahr etwa acht Studierende, die sind zwei Monate lang den ganzen Tag bei uns in der Klinik und machen dann eine Prüfung.
Wo sehen Sie die Klinik in zehn oder fünfzehn Jahren?
Ich bin überzeugt, dass auch in der Zukunft der Bosenberg eine wichtige Rolle spielen wird, weil die Konstellation mit den vielen Abteilungen und die große Erfahrung immer gebraucht werden wird. Wir werden die Kooperation mit den Kliniken vor allem in Bezug auf die Erstanpassung nach dem „Mannheimer-Modell“ weiter ausweiten. Da sehe ich vor allem unsere Chance.
Damit sind wir am Ende unseres Interviews angekommen. Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg, persönlich, sowie mit der Klinik am Bosenberg und bedanke mich ganz herzlich für dieses Gespräch.
Das Interview haben wir am 31.7. und 7.8.2019 geführt.